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Bericht: Wir müssen nur aus dem Fenster schauen, um Transformation zu sehen“ – Jahrestagung des Zentrums für Interdisziplinäre Polenstudien in Danzig

­­­­­­­An einem historischen Ort kritisch zurückschauen und verantwortungsbewusst nach vorn denken: Vom 23. bis 24. September 2021 kamen in Danzig, am Entstehungsort der Solidarność-Bewegung, zahlreiche Sozial-, Geschichts-, Politik- und Wirtschaftswissenschaftler:innen zusammen. „Wie verliefen die Transformationen in Polen und Ostdeutschland?“ und „Welche Faktoren und Bedingungen beeinflussten den Wandel von Wirtschaft, Gesellschaft und Politik?“ waren die Grundfragen der Konferenz, die vom Zentrum für Interdisziplinäre Polenstudien in Zusammenarbeit mit dem Europäischen Solidarność-Zentrum (ECS) in Danzig sowie dem Johann-Gottfried-Herder-Forschungsrat organisiert worden war.

Seit fast drei Jahren bringt das Zentrum für Interdisziplinäre Polenstudien die polnische Perspektive in das Verbundprojekt „Modernisierungsblockaden in Wirtschaft und Wissenschaft der DDR“ ein. Auf der Jahreskonferenz des Zentrums in Danzig, die Dr. Falk Flade, Dr. Anna M. Steinkamp, Konrad Walerski und Susanne Orth organisiert hatten, konnten nun die Forschungspartner:innen Zwischenergebnisse präsentieren und diskutieren.

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Foto: Mateusz Weis-Banaszczyk

 
Polen und Ostdeutschland im Vergleich

Durch Ostdeutschlands Sonderstellung und die Wiedervereinigung mit der Bundesrepublik Deutschland stellen Untersuchungen zur System- und Gesellschaftstransformation meist Vergleiche mit Westdeutschland her. Polen wiederum wird vor allem mit anderen mittelosteuropäischen Ländern verglichen. Wem also könnte es näherliegen als Forscher:innen des Zentrums für Interdisziplinäre Polenstudien der Viadrina an der deutsch-polnischen Grenze, den ostdeutsch-polnischen Vergleich anzuregen?

Die einzelnen Beiträge der Konferenz wurden aus fünf Perspektiven diskutiert: Produktivität, Innovativität, Unternehmertum, Wissenszirkulation und Modernisierung. Dabei bestätigte sich in vielen Makrostudien, was Prof. Dr. André Steiner, Historiker am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam, direkt zu Anfang problematisierte: die Zahlen seien keineswegs eindeutig und miteinander vergleichbar; verschiedenste Erhebungsverfahren, vermutlich an die Planvorgaben angepasste Zahlen und administrative Reformen, stellen die Herausforderungen dar. Andererseits kristallisieren sich auch Schnittmengen heraus, die eine weitere Erforschung verlangen: regionale Unterschiede überdauern ebenso wie individueller Habitus. So ist der „DDR-Effekt“ wohl weniger stark als zunächst angenommen. Prof. Dr. Anna Schwarz und Prof. Dr. Robert Geisler (Universität Opole) hoben hervor, dass es doch viele Mikrokosmen und Milieus jenseits von Plan und Partei gab. So ging es auch angesichts aktueller politischer Entwicklungen um die Frage, ob antidemokratische Systeme überhaupt langfristig Modernisierung „von oben“ durchführen können.

 
Ein Ort der Verantwortung

Wie kein zweiter Ort in Polen steht Danzig für den Beginn der Umbrüche in Polen und damit als Vorreiter der Transformation in Mittel- und Osteuropa; insbesondere die Danziger Werft, wo sich die Arbeiterbewegung Solidarność gründete. Dieses Erbe pflegt aktiv das Danziger Europäische Solidarność-Zentrum (ECS) unter Leitung von Basil Kerski. Historische Bildung geht hier einher mit einem großen Engagement für eine offene Stadtgesellschaft und für ein pro-europäisches Polen. Dieses Engagement wurde jüngst mit dem renommierten Preis „Europa Nostra“ in Venedig anerkannt. „Dieser Ort zeigt uns, dass wir Verantwortung tragen, nicht nur wissenschaftlich“, appellierte Prof. Dr. Dagmara Jajeśniak-Quast, Leiterin des Zentrums für Interdisziplinäre Polenstudien, in ihrer Eröffnungsrede. „Die deutsch-polnische Zusammenarbeit ist aktuell nicht leicht. Umso wichtiger ist es, dass wir sie mit dieser Konferenz vorantreiben“, bekräftigte Dr. Przemysław Ruchlewski vom ECS.

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Foto: Antje Wilke

 
Rückkehr an den Runden Tisch

Dass die Konferenz über das rein Wissenschaftliche hinausging, offenbarte sich beim Besuch der Ausstellungen im Solidarność-Zentrum und im benachbarten Museum des Zweiten Weltkrieges, spätestens jedoch am Donnerstagabend, als fünf Zeitzeug:innen beziehungsweise Akteur:innen der polnischen und deutschen Transformation aus Wirtschaft und Politik zum Gespräch am „Runden Tisch“ zusammenkamen. Neben Bogdan Lis und Wolfgang Templin als Bürgerrechtler und Teilnehmer an den Runden Tischen 1989/90 diskutierten auch die Unternehmer:innen Barbara Sergot-Golędzinowska und Dr. Zbigniew Canowiecki sowie der Wirtschaftswissenschaftler Prof. Dariusz Filar. Mit Witz und Wortgewandtheit überzeugte Canowiecki das Publikum wie wohl auch Anfang der 1990er-Jahre ausländische Investoren und Kreditgeber. Internationale Erfahrungen und Kontakte seien damals maßgeblich gewesen, so Sergot-Golędzinowska, die 1989 zu den ersten freien Wahlen am 1. Juni aus den USA nach Polen zurückkehrte. Dass Transformation ein multi-dimensionaler, ambivalenter und gleichzeitig stattfindender Prozess ist, illustrierte im Gegensatz zu den erfolgreichen Unternehmergeschichten Wolfgang Templin aus seiner Perspektive. Selbstkritisch blickte er auf die DDR-Bürgerbewegung, die zwar ihre Prinzipien, aber zu wenig Pragmatismus und zu viel Naivität gehabt hätte. „Die Wiedervereinigung hätte anders laufen müssen“, konstatierte er. Soziale Spaltung und Rechtsruck kämen nicht von irgendwoher. Dass der Transformationsprozess lange dauern würde, sei ihm schon damals klar gewesen – er habe etwa 40 Jahre geschätzt. „Heute denke ich: mindestens 60 Jahre.“

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Foto: Katarzyna Granacka

 
Über die Wissenschaft hinaus

„Wir müssen nur aus dem Fenster schauen, um Transformation zu sehen“, so Dagmara Jajeśniak-Quast. In diesem Sinne endete die Konferenz mit einem spannenden Werftrundgang, der die Transformation der Werft von einer Produktionsstätte für die Preußische Kriegsmarine über einen volkseigenen Betrieb bis hin zur post-industriellen kulturellen Umnutzung erleben ließ.

So nehmen die Frankfurter:innen, darunter auch die Konferenz begleitende Delegation mit Oberbürgermeister René Wilke, der Kultur-, Bildungs- und Europa-Dezernentin Milena Manns und der Viadrina-Präsidentin Prof. Dr. Julia von Blumenthal nicht nur wissenschaftliche, sondern auch stadtgestalterische Inspiration für ein mögliches Zukunftszentrum für Europäische Transformation und Deutsche Einheit an die Oder mit.

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Foto: Antje Wilke

 

Text: Antje Wilke