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Bericht

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„Cuius regio, eius regio?“ – so latinisierte Miloš Řezník die Fragestellung der Tagung, zu der vom 22. bis 24. September 2022 Mitarbeiter*innen der Europa-Universität Viadrina und Mitglieder der Kommission für die Geschichte der Deutschen in Polen mit weiteren Expert*innen für Regionalgeschichte und Interessierten zusammenkamen. Die geschichtsträchtige Grenz- bzw. Doppelstadt Frankfurt (Oder)/Słubice war ein geeigneter Tagungsort, um Geschichtsschreibungen zwischen Region und Nation im Wandel der Zeit zu diskutieren.

Das Zentrum für Interdisziplinäre Polenstudien und die Kommission verbindet die Beschäftigung mit dem deutsch-polnischen Kontaktraum, in dem die Stellung der Landes- bzw. Regionalgeschichtsschreibung keineswegs so gesichert ist, wie man noch zu Beginn des neuen Jahrtausends glauben konnte. Auf nationalstaatlicher Ebene sind seit einiger Zeit eher gegenläufige Tendenzen zu beobachten: Das Nationale wird von der polnischen Geschichtspolitik stark betont, in Deutschland hingegen oft heruntergespielt. Auch die Regionalgeschichtsschreibung muss sich in dieser Gemengelage neu verorten, wie Karsten Holste und Matthias Barelkowski in ihrem Einleitungsreferat betonten. 

In seiner Keynote am Donnerstagabend gab Miloš Řezník, Direktor des Deutschen Historischen Instituts (DHI) in Warschau, einen Überblick über Regionen und die Europäisierung des „Kulturerbes“ in Ostmitteleuropa seit den 1990er Jahren. Trotz aktueller Renationalisierungen habe das Regionale insgesamt eine Aufwertung erfahren, auch im politischen Europa der Regionen. Die gesellschaftlich-kulturellen Rahmenbedingungen ließen flexiblere und pluralisierte Identitäten zu, und damit auch Regionalisierung und Ethnizität. Besonders spannend seien Momente, in denen Räume neu funktionalisiert bzw. Raumverhältnisse neu konfiguriert werden. Dabei nehme die Präsenz von Geschichte in der Öffentlichkeit stetig zu, und zwar in immer neuen Formen – Geschichte müsse daher in vielfältiger Weise, auch im Sinne der public history, erforscht werden.

Forschung zwischen Engagement und Transfer

Die Konferenzbeiträge am Freitag befassten sich mit sehr unterschiedlichen Regionen: von Masuren bis Oberschlesien, von Galizien bis Großpolen, von Ostbrandenburg bis zur grenzüberschreitenden Oderregion – diese Vielfalt erwies sich als ideal, um die Thesen des Eröffnungsvortrages vergleichend zu überprüfen.

Die einleitende Podiumsdiskussion verdeutlichte anhand von Forschungs-, Lehr- und Ausstellungsprojekten des Zentrums, dass regionale und zugleich transnationale Geschichten großes Potential für den Transfer von der Wissenschaft in die Gesellschaft, zwischen Universität und Öffentlichkeit besitzen. Themen wie die Vergessene Grenze von 1918, die Geschichte des Halbleiterwerkes in Frankfurt (Oder) sowie aktuell der Transnationale Tourismus zwischen DDR, Polen und ČSSR (aktuell Ausstellung „Grenzen der Freundschaft“ in Kooperation mit dem Museum Utopie und Alltag in Eisenhüttenstadt) sollen das Interesse von Studierenden wie auch Bürger*innen der Region wecken und diese einander näherbringen. 

Die Vorträge und Berichte aus der (musealen) Praxis veranschaulichten die fortwährenden Schwierigkeiten, Regionen zu definieren und in Museen zu erzählen, nicht zuletzt aufgrund wechselnder politisch-staatlicher Zugehörigkeiten und des Grenzlandcharakters mancher Gebiete. Dabei stehen lokalgeschichtlich äußerst engagierte Personen oder Gruppen einerseits oft „vergessenem“, gar marginalisiertem Kulturerbe (nicht mehr dort lebender communities wie z. B. deutschen Protestant*innen in Zentralpolen oder deutschsprachigen Jüd*innen in Westpolen) andererseits gegenüber. Vor allem in kleineren Orten kann das Wissen nicht in Form von schriftlichen Quellen überliefert oder aufbewahrt werden, was entsprechende Konsequenzen hat. Deutlich wurde, dass Museen wie auch unterschiedliche Forschungsinstitutionen, darunter Historische Kommissionen, nur gemeinsam mit Museen und lokalen Geschichtsvereinen erfolgreich sein können. Am Beispiel Galiziens wurde zudem die Rolle lokaler Verwaltungen (Städte, Gemeinden) mit ihrem Eigeninteresse an regionalgeschichtlicher Forschung zur Debatte gestellt.

Viadrina, Kommission, Regionalforschung: Quo vaditis?

Die gemeinsame Tagung war nicht zuletzt dem Bedürfnis nach Überprüfung der eigenen Tätigkeit geschuldet, zugleich aber auch von der Hoffnung auf gegenseitige Impulse geprägt.

Die Kommission für die Geschichte der Deutschen in Polen bewegt sich seit jeher zwischen den Achsen von Nation und Region: Ihre Ende des 19. Jahrhunderts gegründete Vorgängerorganisation war der Geschichte der Provinz Posen verpflichtet und weitete 1918 ihr Engagement auf die Geschichte der Deutschen (Minderheit) im gesamten neuen polnischen Staat aus. Mittlerweile decken die Arbeitsschwerpunkte der Kommissionsmitglieder ein sehr breites Feld der Geschichte und Kultur Polens sowie der deutsch-polnischen Beziehungen ab, das weit über die großpolnische Landesgeschichte sowie die Geschichte deutsch(sprachig)er Bevölkerung in Polen hinausgeht. Insofern standen für die Kommission, die am letzten Konferenztag ihre Mitgliederversammlung abhielt, Fragen der eigenen Zukunft bzw. die Gewichtung von Landesgeschichtsschreibung im Vergleich zu Aspekten der deutsch-polnischen Beziehungen auf der Tagesordnung.

An der Viadrina ist die Regionalgeschichtsforschung nicht mehr mit einer eigenen Professur verankert, wie Gastgeberin Dagmara Jajeśniak-Quast einleitend konstatierte. Das Zentrum für Interdisziplinäre Polenstudien versteht seine Arbeit jedoch im Sinne der Wirtschaftshistorikerin Helga Schultz auch als regional. Die für die Verankerung der Universität in der Region eigentlich zentrale (historische) Regionalforschung wird derzeit durch die Lehrstühle für Denkmalkunde sowie Kultur und Geschichte Mittel- und Osteuropas betrieben.

Der Leiter der Gedenk- und Dokumentationsstätte „Opfer politischer Gewaltherrschaft“ in Frankfurt (Oder) Karl-Konrad Tschäpe bekräftigte schließlich die Plädoyers für eine Stärkung der universitären Regionalgeschichtsforschung mit einer Erinnerung an die Vision von Karl Schlögel (Im Raume lesen wir die Zeit), dass die Viadrina das Zeug dazu habe, als „Humboldtsches Schiff von Frankfurt (Oder) aus die Welt zu erkunden“.

Arthur-Kronthal-Preis für Dr. Marta Kuc-Czerep

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Ein weiterer Höhepunkt der Tagung war die Verleihung des Arthur-Kronthal-Preises 2022 durch die Kommission für die Geschichte der Deutschen in Polen an Marta Kuc-Czerep für ihr Buch Niemieckojęzyczni mieszkańcy Warszawy. Droga do obywatelstwa w osiemnastowiecznej Rzeczypospolitej (Die deutschsprachigen Bewohner*innen Warschaus. Der Weg zur Staatsbürgerschaft der Rzeczpospolita des 18. Jahrhunderts), erschienen 2021 in Warschau.

Benannt ist der Preis nach Arthur Kronthal (1859-1941) – einem Posener Stadtrat, Kultur- und Sozialmäzen, der sich große Verdienste für die Stadtentwicklung und die deutsch-polnisch-jüdische Verständigung erworben hat.

Marta Kuc-Czereps als Dissertation entstandene, sozialgeschichtliche Studie untersucht zum einen die Besonderheiten der Gruppe der Deutschsprachigen, ihre Herkunft, religiöse, wirtschaftliche und kulturelle Spezifik, zum anderen ihre tiefe historische Verbindung zu den anderen historischen Teilgruppen der polnischen Gesellschaft. Damit trägt sie in herausragender Weise zur Förderung eines der Kernanliegen der Kommission bei: die Geschichte der Deutschen in Polen verstärkt als Geschichte von Interaktion, Transfer und Hybridität zu betrachten.

 

Bericht von Antje Wilke, Matthias Barelkowski und Karsten Holste